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Anfänge
Wozu forschen? Das Projekt <reformpause> von Marion von Osten
Peter Spillmann

Marion von Osten: <reformpause>, 2006, Rauminstallation, Ausstellungsansicht
(Foto: Courtesy Kunstraum der Leuphana Universität Lüneburg, Archiv Labor k3000/cpkc)



Anfänge sind stets vielfältig. In der Diskussion um künstlerische Forschung lässt sich ein Anfang sicherlich im sogenannten Bologna-Prozess verorten, mit dem, vor dem Hintergrund einer neoliberalen Interpretation von Wissensgesellschaft, ab 1999 weitreichende Reformen in der europäischen Bildungslandschaft umgesetzt wurden. Begründet wurden diese mit einer neuen, wirtschaftlich motivierten Innovations-Rhetorik, der sich durchaus auch die Formel „künstlerische Forschung“ zuordnen ließ – als Wendung, die nahelegen sollte, dass künstlerische Vorhaben mit wissenschaftlichen gleichziehen und sich in akademische Prozesse einpassen könnten.

Die Künstlerin und Kuratorin Marion von Osten untersuchte diese Entwicklungen im Rahmen mehrerer Projekte, unter anderem in Be Creative! Der kreative Imperativ (2002/03), das sie gemeinsam mit Studierenden der ZHdK erarbeitet hatte. Dieses Projekt handelte von den Reformen der Hochschulen und dem Begriff „Kreativität“, der in den 1990er Jahren zu einer zentralen rhetorischen Konstante geworden war. Kreative Lösungen wurden fortan nicht mehr ausschließlich von Künstler*innen oder Gestalter*innen, sondern zum Beispiel auch von Blue-Collar-Arbeiter*innen erwartet. Die Creative Industries und die durch sie hervorgebrachte Creative Class hatten Konjunktur. In der kritischen Theorie waren außerdem die „umherschweifenden Produzenten“ von Negri/Lazzarato/Virno ein vieldiskutiertes Modell. In diesem größeren gesellschaftlichen und auch politischen Kontext muss die Verschiebung der Funktion und Bedeutung der Arbeit von Künstler*innen gesehen werden, um die Aneignung des Begriffs „künstlerische Forschung“ auch, und vielleicht sogar in erster Linie, als strategische Positionierung der Kunstschaffenden selbst verstehen zu können.

Auch das Projekt <reformpause> von 2005/06, welches ich untenstehend vorstellen möchte, beschäftigte sich mit eben jenen Rhetoriken und ihrer Auswirkung auf die Bildungsreform. Mir scheint dabei entscheidend zu sein, dass die spezifischen Vorgehensweisen und Methoden von <reformpause>, die wir heute als wesentlich für künstlerische Forschung bezeichnen würden, in den 1990er Jahren bereits in vielen Projekten erprobte Praxis waren, ohne als solche bezeichnet zu werden: Kollaborative Formen des Arbeitens und Recherchierens, der Fokus auf aktuelle gesellschaftliche Prozesse aus einer transdisziplinären Perspektive und die damit verbundene Verknüpfung von verschiedenen Akteur*innen und Expertisen, ein grundsätzlich institutions-reflexiver Ansatz, die Wiederverwendung und Re-Inszenierung von historischem Material, Experimente mit Formaten wie Workshop, Treffen oder Konferenz als kulturelle und soziale Anlässe oder kontextspezifisch reflektierte Raumsettings, welche gängige Ausstellungsformate vermieden ohne auf Ausstellungen zu verzichten. Mit der Erweiterung von Begriffen wie site-specific (Miwon Kwon) oder Participatory Art (Claire Bishop) wurde diese Entwicklung auch kunsttheoretisch reflektiert. Projekte wie If You Lived Here von Martha Rosler aus dem Jahr 1989 oder Andrea Frasers Bericht: E.A. Generali Foundation von 1995 waren wichtige Referenzen einer partizipativen und investigativen künstlerischen Praxis.

Bei mir im Bücherregal bin ich allerdings noch auf einen ganz anderen Anfang gestoßen. Dort stehen die Bücher Art After Philosophy and After – Collected Writings, 1966–1990 (1993) von Joseph Kosuth und Robert Smithson – The Collected Writings (1979) nebeneinander. Kosuths radikale Forderung, die Geschichte der Kunst nicht länger als eine Genealogie von Artefakten zu begreifen, sondern als einen kontinuierlichen, situationsbezogenen Prozess der Befragung von Sinn und Bedeutung, ist ein wichtiger Schritt zu einem werkunabhängigen Verständnis von künstlerischer Praxis, die sich als eine Form von philosophisch-gesellschaftlicher Reflexion ständig neu konstituiert. Seine als Investigations bezeichneten Installationen wurden im Kunstraum dennoch in erster Linie als Werke rezipiert, während Nancy Holts und Robert Smithsons herumlungerndes Erforschen von realen Orten sich der Werkkategorie länger entziehen konnte. Denn hier: im Tun, in der Aktion, im Zuhören, im Diskutieren, im Gehen, im Durchsehen von Papieren und Materialien und im Erkunden von Archiven liegt ein zentraler Aspekt künstlerisch-forschender Praxis.
Genau dies lässt sich am Projekt <reformpause> nachvollziehen. In ihm wurde Wissen als eine Form von Aktivierung in einem spezifischen Moment, in einem aktuellen institutionellen Kontext und als sozialer Akt ins Spiel gebracht: als Gegenmodell zur Bologna-Version eines eben-gerade-wirtschaftlich-nützlichen Wissens und als feministische Kritik an der Idee universeller Erkenntnis.

<plakat> Ausgabe Nr. 1, Wandzeitung erschienen zur Ausstellung <reformpause>
(Bild: Archiv Labor k3000/cpkc)


Marion von Osten: <reformpause>

<reformpause> ist ein Projekt, das Marion von Osten 2005–2006 auf Einladung des Kunstraums der Leuphana Universität Lüneburg realisiert hat. Das Projekt bezog sich auf den lokalen Kontext des Kunstraums, der auf dem Campus der Universität liegt. Er ist ein Ort, in den regelmäßig Künstler*innen eingeladen wurden, um gemeinsam mit Studierenden und Dozierenden Ausstellungen zu entwickeln.

<reformpause> schloss inhaltlich an Fragestellungen vorangegangener Ausstellungen, Debatten und Publikationen zur Campusarchitektur und Bildungsthematik an, etwa an das Projekt Branding the Campus (1996–1998) von Christian Philipp Müller oder Die Regierung (2004) von Ruth Noack und Roger Buergel. Konzeptioneller Ausgangspunkt von <reformpause> war die Frage, wie und mit welchen Begründungen derzeit Universitäten reformiert werden und auf welchen historischen Traditionen sie beruhen. Vor dem Hintergrund der Bologna-Konferenz von 1999 und dem dadurch angestoßenen Reformprozess der europäischen Bildungslandschaft sowie den Thesen zum Neuen Geist des Kapitalismus (1999) von Luc Boltanski und Eve Chiapello untersuchte das Projekt, wie Reformrhetoriken sowohl reale Bildungsinstitutionen in ihren Strukturen und Funktionsweisen als auch eine darüber vermittelte Idee von Bildung und Wissen transformieren.
Das Projekt schlug dabei einen Bogen von der staatlichen Bildungsinitiative in den 1960er und 1970er Jahren – als ausgelöst durch den „Sputnik-Schock“ Bildung als Machtressource ins Zentrum des politischen Diskurses rückte und folglich Studierende als „Humankapital“ für die Universität mobilisiert wurden – bis hin zu einem sich unter der Bologna-Reform abzeichnenden, zunehmend ökonomisch ausgerichteten, neoliberalen Leitbild der Institution Universität. Die geforderte Standardisierung, Vergleichbarkeit und Effizienz des Studiums gingen mit einer Re-Disziplinierung der Studierenden und einer Bürokratisierung der institutionellen Strukturen einher. Die relativ offene, durchlässige und zugängliche Massenuniversität löste sich in immer neuen, enger begrenzten Studienangeboten, wirtschaftsnahen Kompetenzzentren und konkurrierenden Exzellenz-Clustern auf. Die Bildungslandschaften wurden in einen Bildungsmarkt transformiert. – Eine Entwicklung, die Anlass zu Kritik und zahlreichen studentischen Protestaktionen gab.

Im Rahmen des Seminars zu <reformpause> im Wintersemester 2005 wurde mit den Studierenden der Bologna-Prozess mit seinen verschiedenen Etappen und publizierten Papieren im Detail studiert und analysiert. Parallel dazu wurde die Geschichte der Bildungsreformen an Universitäten und die sie begleitenden Kritiktraditionen seit den 1960er Jahren recherchiert und ihre Anschlussfähigkeit an laufende Debatten diskutiert, um so historische und aktuelle Kämpfe um alternative Wissensräume in Beziehung zu setzen. Mit Blick auf den aktuellen Reformprozess und die laufende Standarisierung des Studiums wurde gefragt, welche anderen Praktiken des Wissens und welche anderen Wissensräume produktiv sein könnten für neue Subjektivitäten, Allianzen und Koalitionen und wie aus dieser Perspektive Kritik an Bildungskonzepten und Reformen zu etablieren wäre.

Der öffentliche Teil des Projekts <reformpause> bestand aus vier verschiedenen künstlerischen, aktivistischen und vermittelnden Formaten: aus einer Installation im Kunstraum der Leuphana Universität Lüneburg, einer Plakataktion auf dem Campus, Filmvorführungen und einem interdisziplinären Workshop.

Die Rauminstallation umfasste ein raumfüllendes Modell der als erste Universitätsneugründung der BRD erbauten und 1965 eingeweihten Ruhr-Universität Bochum. Das Modell machte die serielle Logik der „Schule als Fabrik“ anschaulich. Es diente zugleich als Lese- und Sitzmöbel und wurde von einer Soundarbeit begleitet, die auf den Geräuschen basierte, welche die über die Jahre instabil gewordenen Kunststeinplatten im Außenraum der Ruhr-Universität beim Begehen erzeugen. Dies konnte als Kommentar zu den obsolet gewordenen Konzepten der Moderne, aber auch als Hinweis auf die verborgenen Qualitäten von dysfunktionalen Institutionen im Umbruch gedeutet werden.

Vier Ausgaben von <plakat>, eine Zeitung im Format A2, deren Rückseiten zusammengesetzt ein Plakat ergaben, wurden auf dem gesamten Campus plakatiert. Damit wurde das Format der Wandzeitung aufgegriffen, das Peter Grohmann zur Zeit der Studierendenbewegung in den späten 1980er Jahren eingesetzt hatte. Die vier Ausgaben fokussierten mit unterschiedlichen Schwerpunkten, wie und mit welchem Vokabular die Universitäten reformiert werden sollten und auf welchen historischen Traditionen diese Argumentation beruhte.

Plakatierungsaktion auf dem Campus der Leuphana Universität Lüneburg im Rahmen der Ausstellung <reformpause>. Die vier Wandzeitungsseiten von <plakat> ergaben zusammengesetzt auf der Rückseite das linkshängende Bild.
(Foto: Courtesy Kunstraum der Leuphana Universität Lüneburg, Archiv Labor k3000/cpkc)


Während der vierwöchigen Ausstellung wurden in den Unterrichtspausen in verschiedenen Hörsälen und Seminarräumen der Universität unter dem Titel <pausenkino> eine von Madeleine Bernstorff und Marion von Osten zusammengestellte Reihe von historischen und aktuellen Filmen gezeigt, die sich kritisch mit Bildungsinstitutionen auseinandersetzten. Zu sehen waren Spiel- und Dokumentarfilme zu Bildungsthemen, Studierendenprotesten und alternativen Universitätsmodellen unter anderem von Claudia Alemann, Lindsay Anderson, Danielle Huillet & Jean-Marie Straub, Marita Hübinger und Frederick Wiseman. Die Vorstellungen wurden jeweils kurz vor Beginn über die Lautsprecheranlage des Hausdienstes auf dem gesamten Campus angekündigt.

Mit diesen aktivistischen Strategien der Intervention in Form von Plakatierungen und Filmvorführungen auf dem Campus sorgte das Projekt für kurze reflexive Unterbrechungen im Lehrbetrieb.

Unter dem Titel Making Worlds fand zum Start der Ausstellung Mitte Mai 2006 ein dreitägiger Workshop statt, in welchem die seit Herbst 2005 arbeitende Projektgruppe mit eingeladenen Referent*innen in Austausch trat. Verschiedene Arbeitsgruppen stellten die Ergebnisse ihrer Recherchen rund um die im Rahmen der Bologna-Konferenz beschlossenen Reformen vor.
In weiteren Beiträgen wurden unter anderem Techniken des Qualitätsmanagements und der QM-Zertifizierung kritisch beleuchtet, eine im Dezember 2004 von Studierenden verschiedener Universitäten gestartete Initiative anlässlich der Eröffnung der Berliner Volkswagen Universitätsbibliothek vorgestellt sowie über wissenschaftskritische und militante Methoden wie „Selbstbefragung“ und „Mituntersuchung“ berichtet, welche in den 1970er Jahren entwickelt wurden. Eine weitere Arbeitsgruppe hatte sich rund um das Thema Studierendenrevolten gebildet und stellte ihre Rechercheergebnisse zu der 1967 in Berlin gegründeten „Kritischen Universität“ und zum Unistreik von 1968 zur Diskussion.

<reformpause> übte eine grundsätzliche politische Kritik an der Ökonomisierung von Wissen. Eine Ökonomisierung, welche die transgressiven Dynamiken, die jedem Wissen innewohnen, nicht berücksichtigt. Das Projekt schlug als Alternative zu den technisch administrativen Argumentationen der Bolognareform eine selbstbestimmte und partizipative Wissenspraxis vor; eine Praxis, welche in kontextspezifischen Auseinandersetzungen, im sozialen Austausch und durch Aneignung und Aktualisierung von Wissen Formen von Gemeinschaft schafft.

<reformpause> wurde kurzfristig selbst zum Modell eines Studiums, in dem Wissen der Ermächtigung und Teilhabe von Akteur*innen dient und die Universität als öffentliche Infrastruktur allen zur Verfügung steht. Das Projekt eröffnete mitten in dem von Umstrukturierungen selbst betroffenen Lehrbetrieb den notwendigen Denkraum, um die laufenden Entwicklungen zu befragen. Durch die alternative soziale und kulturelle Nutzung von Räumen – etwa für politische Debatten, offene Workshops, informelle Treffen und Filmvorführungen – hat das Projekt die Universität punktuell symbolisch besetzt und vorhandene Spielräume sichtbar gemacht.

Weiterführende Empfehlungen

In the Making – In the Desert of Modernity: Colonial Planning and After. Traversing a Project Exhibition ist die letzte Publikation von Marion von Osten, die 2023 von Sabeth Buchmann, Susanne Leeb und Peter Spillmann für Labor k3000 herausgegeben wurde und bei polypen erschienen ist.
Siehe: www.bbooks.de/verlag/in-the-making

Bildungsschock – Lernen, Politik und Architektur in den 1960er und 1970er Jahren war eine Ausstellung von Tom Holert, die 2020 im HKW Berlin stattfand und zu einer gleichnamigen Publikation führte.
Siehe: archiv.hkw.de/de/programm/projekte/2021/bildungsschock/bildungsschock_start.php

Das Erziehungsbild – Zur visuellen Kultur des Pädagogischen ist eine Publikation, die 2010 in der Reihe Schriften der Akademie der bildenden Künste Wien als Band 11 von Tom Holert und Marion von Osten herausgegeben wurde.
Siehe: webportal-live.akbild.ac.at/de/forschung/publikationsreihe/das-erziehungsbild-zur-visuellen-kultur-des-paedagogischen

Das Projekt Be Creative! Der kreative Imperativ war eine Initiative des Instituts für Theorie der Gestaltung und Kunst (ITH) an der ZHdK Zürich in Kooperation mit D/O/C/K-Projektbereich der Hochschule für Gestaltung und Buchkunst (HGB) Leipzig. Realisiert wurden im Zeitraum 2002/2003 zwei kontextspezifische Ausstellungen mit Studierenden und geladenen Künstler*innen und Wissenschaftler*innen im Museum für Gestaltung Zürich und in der Galerie der HGB Leipzig, kuratiert von Marion von Osten und Peter Spillmann in Zürich und von Beatrice von Bismarck und Alexander Koch in Leipzig.
Siehe: https://k3000.ch/labor/becreative/