Freilegungen
Zur dekolonialen Praxis in Amt 45 i von Cameron Rowland

Cameron Rowland, Ingenio, 2023, Zuckerkessel, 19. Jahrhundert, in England hergestellt, in Louisiana verwendet, 185 x 185 x 68 cm
Im Spanischen wurde die zu Kolonialzeiten gebräuchliche Zuckerrohrmühle „Ingenio“ genannt, was „Triebwerk“ bedeutete. Eine solche Mühle war auf Zuckerplantagen unentbehrlich. Das geerntete Zuckerrohr musste umgehend gemahlen werden, damit es nicht verfaulte. Die Mühle lief 16 bis 18 Stunden am Tag. Versklavte Schwarze Menschen bauten das Zuckerrohr an, ernteten und zerkleinerten es und kochten den Saft. Die Mühle bestand aus einer Reihe offener Kessel, die in Europa hergestellt, in die Kolonien exportiert und dort von Sklav*innen bedient wurden, die den Zuckerrohrsaft zu Sirup und Rohkristallen weiterverarbeiteten. Die „Ingenio“ wurde mit systematischer Folter betrieben. Die Regelmäßigkeit der Bestrafung sorgte dafür, dass die Zuckermühle nahezu ununterbrochen produzieren konnte. „Die Sklaven bekamen die Peitsche mit größerer Gewissheit und Regelmäßigkeit als ihr Essen. Sie war der Anreiz zur Arbeit und Hüter der Disziplin.“ Auf diese Weise wurde 400 Jahre lang Zucker hergestellt.
Liebe Abonnent*innen, in welchem Maße die Kunst es vermag, Geschichtsschreibungen zu hinterfragen und historische Ungerechtigkeiten sichtbar zu machen, zeigt sich besonders an künstlerisch-forschenden Praxen wie denen von Cameron Rowland. In dieser Ausgabe beschreibt unser Beiratsmitglied Juliane Bischoff Rowlands erste institutionelle Einzelausstellung in Deutschland mit dem Titel „Amt 45 i“, in der koloniale Machtstrukturen, die bis heute wirksam sind, freigelegt wurden. Herzliche Grüße, Kathrin Busch, Karina Nimmerfall, Mathias Zeiske (Präsidium) Max Liebstein (Redaktion)
Juliane Bischoff: Freilegungen. Zur dekolonialen Praxis von Cameron Rowland
Eine grundlegende Gemeinsamkeit der enorm vielfältigen Formen künstlerischer Forschung ist die Befragung des Wissens durch Kunst. Dabei rücken auch die Bedingungen und Machtverhältnisse in den Blick, durch die Wissen generiert und geformt wird. Gegenwärtig sind diese durch eine Verschiebung der politischen Parameter gekennzeichnet, wobei Populist*innen Wahrheitsansprüche pervertieren und vereinnahmen, die Wissenschaft von rechten Bewegungen verhöhnt wird und einer „neoliberalen Interpretation von Wissensgesellschaft“ zugearbeitet wird, wie Peter Spillmann es im letzten Newsletter beschreibt. Kunst kann dabei als möglicher „Austragungsort für eine andere Form des Denkens“ [1] bedeutsam und im besten Fall sozial wirksam werden, um machtvoll ausgeschlossenes Wissen zugänglich zu machen.
Während ich diesen Text schreibe, wurde Donald Trump zum zweiten Mal als Präsident der USA vereidigt. Ich muss an einen Vorfall aus seiner vorigen Amtszeit denken, als Trump und seine rechten Anhänger*innen das bahnbrechende 1619 Project [2] verunglimpften – ein Projekt, das die Geschichte der USA aus der Perspektive der Versklavten erzählt und zeigt, wie sehr rassistische Ausbeutung die amerikanische Gesellschaft noch heute prägt, Macht in Form von Besitz verstetigt und Ausgrenzung praktiziert. Trump drohte Schulen, die das 1619 Project im Unterricht nutzen, die Mittel zu entziehen, korrespondierend zum umfassenden Angriff der Rechten auf die Critical Race Theory. Es ist nur ein Beispiel von unzähligen, das zeigt, wie Wissen durch rassistische und neoliberale Machtverhältnisse zugerichtet wird und bereits marginalistierte Perspektiven weiter substanziell ausgeschlossen werden.
Kunst ist heute untrennbar in eine Ökonomie des Wissens eingebunden, die von einer grundsätzlichen Konjunktur von Wissen als Wert und Ware in der Gesellschaft begleitet ist. Spätestens die postkonzeptuelle Kunst wird „nicht mehr im Hinblick auf die Möglichkeiten einer ästhetischen Erfahrung, sondern vermehrt im Hinblick auf ihren Erkenntnisgehalt, ihr kritisches Vermögen und die Bereitstellung eines anderen Wissens beurteilt.“ [3] Die epistemische Wende in der Kunst birgt die Gefahr in neoliberalen Vorstellungen von Wissen als „unendlich austauschbare Ware und Instrument der sozialen Hierarchisierung“ [4] aufzugehen. Dem gegenüber steht die Möglichkeit, dass künstlerisch-forschende Praxen dazu beitragen, die „organisatorischen Strukturen, theoretischen Mittel, und materiellen Kontexte bereitzustellen, die die vielschichtige Arbeit an der Verlagerung und Neuausrichtung von Wissen selbst
ermöglichen.“ [5]
In den komplexen wie widersprüchlichen Verstrickungen von künstlerischen Wissensformen in Regime der Macht und der Reproduktion von sozialen und ökonomischen Ungerechtigkeiten, ist die Kunst gefordert, ihre eigene Situiertheit zu überprüfen. Zugleich eröffnen sich in der Kunst Möglichkeiten, um hegemoniale Wissensordnungen zu kritisieren und epistemische Machtverhältnisse freizulegen und neu zu ordnen: „Wenn Wissen durch die undurchsichtigen Finanztransaktionen, die neoliberale Marktepistemologie, den Plattform-Kapitalismus und die wahrheitsfeindliche Einstellung des Rechtspopulismus verleugnet, korrumpiert und verdrängt wurde, ist es dringend notwendig, Wissen erneut zu verlagern und dabei die von marginalisierten oder ungehorsamen Denkenden und Praktizierenden, Schulen und Kollektiven entwickelten epistemischen Strategien einzusetzen und ihre Verschiebungen und Umverteilungen positiv für die erkenntnistheoretischen Auseinandersetzungen der zeitgenössischen
Kunst zu nutzen.“

Cameron Rowland, macandal, 2023, Oxalsäure, 37,5 x 30,5 x 67 cm
Als „macandals“ bezeichnete man mit diversen Substanzen gefüllte Päckchen, die der Geisterbeschwörung dienten, vor Strafe schützen sollten und für Giftanschläge auf Sklav*innenhalter*innen eingesetzt wurden. Sie standen 1757 im Mittelpunkt eines Komplotts, bei dem alle Weißen auf Haiti vergiftet werden sollten. An dem Komplott waren Hunderte versklavte und freie Schwarze beteiligt. Daraufhin wurden „macandals“ untersagt. Trotz dieses Verbots wurden sie weiterhin gehandelt und verwendet. Versklavte Menschen in der gesamten Atlantischen Welt griffen zu Arsen, Manioksaft, gemahlenem Glas und Oxalsäure, um Aufseher*innen und Sklav*innenhalter*innen sowie deren Kinder und Vieh zu vergiften. Oxalsäure ist ein Fleckenentferner und Haushaltsreiniger.