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gesellschaftfürkünstlerische forschung

 
 

Infrastrukturen
Zu Stephen Willats’ Modelling Books
Lucie Kolb

Stephen Willats, The West London Social Resource Project, Display-Tafel, 1972–73
(in: Lucie Kolb (Hg.), Artwork as Institution. Stephen Willats, Zürich 2019, S. 11)



Die kürzlich verstorbene Kunsthistorikerin Marina Vishmidt beobachtete für die jüngere Zeit eine Verschiebung künstlerischer Praktiken: weg von der Institutionskritik, hin zur Arbeit mit Infrastrukturen der Kritik. Am Beispiel von We Are Here, einer Gruppe Geflüchteter in Amsterdam, und Marion von Ostens kollektiver Praxis beschreibt Vishmidt, wie kritisch-künstlerische Arbeit sich nicht länger auf die Analyse der strukturellen und materiellen Bedingungen von Kunst beschränkt, sondern diese für das Herstellen von Infrastrukturen wie Projekte, Räume und Forschungsgruppen (um)nutzt, welche Themen wie Grenzregimes, strukturelle Gewalt und weiße Vorherrschaft kritisch bearbeiten.

Für solche Infrastrukturen der Kritik ist Lauren Berlants Verständnis einer Praxis interessant, die sich vor dem Hintergrund des Versagens und Scheiterns bestehender Infrastrukturen entwickeln kann. Dabei sind für Berlant Infrastrukturen etwas, das uns miteinander und mit der Welt verbindet.

Gerade für eine künstlerisch-forschende Praxis, die auf die Gestaltung sozialer Beziehungen und Prozesse gesellschaftlicher Subjektivierung abzielt, ist dies von besonderer Relevanz: Eingebettet in reparaturbedürftige Wissensinfrastrukturen, stellt die künstlerische Forschung grundlegende Fragen nach der Politik von Wissen, der Art und Weise, wie dieses produziert und verbreitet wird, und nach den Machtverhältnissen, die bestimmen, was in akademischen und künstlerischen Feldern als legitim gilt. Sie zielt damit nicht zuletzt auch auf eine Redistribution von Ressourcen.

Solche Untersuchungen und performative Aktivierungen von Infrastrukturen wurden unter anderem von Sabeth Buchmann am Beispiel der kollektiven Lernprozesse im Bauhaus Dessau beschrieben, in denen die Probe als infrastrukturelle Praxis eingesetzt wurde, und anhand des Projekts Program (2014–16) von Martin Beck, welches das Carpenter Center for Visual Arts an der Harvard University durch eine infrastrukturelle Linse betrachtete.
Ein weiteres relevantes Beispiel in diesem Kontext ist die Praxis des Künstlers
Stephen Willats. Seit den 1960er Jahren ist Infrastruktur für Willats sowohl Inhalt als auch Form. Ob als soziales Gefüge von Wohnsiedlungen, als Kommunikationssystem oder als epistemische Anordnung – Willats nutzt, beforscht und gestaltet Infrastrukturen als zentrales Medium seiner Kunst. In seiner künstlerisch-soziologischen Praxis entsteht Kunst in operativen Settings, partizipativen Verfahren und an medialen Schnittstellen. Willats greift über das Kunstfeld hinaus gestaltend in gesellschaftliche Kontexte ein und sucht dabei nach Formen, um unterschiedliche Perspektiven zu artikulieren und kollektives Wissen, Austausch und Selbstermächtigung zu ermöglichen. Gemeinsam mit Beteiligten entstehen in seinen Arbeiten temporäre Strukturen, die sich mit Vishmidts Überlegungen zu Infrastrukturen der Kritik in Verbindung bringen lassen.

Stephen Willats, The West London Social Resource Project, Diagramm 1972–73
(in: Lucie Kolb (Hg.), Artwork as Institution. Stephen Willats, Zürich 2019, S. 9)


Stephen Willats: Modelling Books

Für das sechswöchige Projekt West London Social Resource Project (1972–73) entwickelte Willats einen iterativen Prozess, der Eindrücke, Kritik und Veränderungsvorschläge von Bewohner*innen der vier Wohnviertel Osterley, Hanwell, Greenford und Harrow in West London zu ihrem jeweiligen Wohnumfeld dokumentierte. Jedes der vier Viertel repräsentierte dabei eine bestimmte soziale Gruppe.

Die Bewohner*innen wurden durch Tür-zu-Tür-Akquise mobilisiert. Interessierte Teilnehmer*innen erhielten ein sogenanntes Modelling Book – ein partizipatives Heft, in dem sie Fragen beantworten konnten. Das Modelling Bookenthielt graphische Elemente und Fotografien von Objekten und Architektur, die aus den vier Vierteln ausgewählt worden waren, sowie Blätter, auf denen die Teilnehmer*innen aufgefordert wurden, ihre Assoziationen oder Verbindungen zu verschiedenen Objekten oder zu ihrem weiteren Umfeld zu beschreiben. Außerdem wurden die Teilnehmer*innen gebeten, die Infrastruktur in und um ihren Wohnort zu beschreiben, vom Wohnzimmertisch bis zu den genutzten Verkehrsmitteln.

Die Resultate dieser Befragung wurden mittels Kopien der Modelling Books in einer lokalen Bibliothek auf sogenannten Public Register Boards ausgestellt, die die Ästhetik von öffentlichen Informationstafeln zu Stadtentwicklung aufgriffen und gestalterisch stilisierten. In einem zweiten Schritt wurden die Teilnehmer*innen gebeten, sich Überlegungen zur Umgestaltung der Wohnumgebung zu machen, beispielsweise zur idealen sozialen Struktur für die Nachbarschaft. Hierfür verteilte Willats ein zweites Heft, das Re-Modelling Book. Die gesammelten Resultate daraus wurden auf Public Register Boards ausgestellt. Diesmal machte eine schriftliche Abstimmung mit einer Wahlurne die Inhalte verhandelbar. Die Vorschläge mit den meisten Stimmen wurden in einem letzten Schritt erneut ausgestellt.

Die Modelling Books selbst übernahmen dabei die Funktion mikro-institutioneller Infrastrukturen der Kritik: Sie rahmten kollektive Prozesse der Wahrnehmung, Artikulation und Handlung – eine Form situierter Forschung in künstlerischem Format. Auch die spätere Mosaic-Reihe (1990–94) knüpft daran an. Neben Werken, die die Auseinandersetzung über gesellschaftliche Infrastruktur in Großbritannien und deren Auswirkung auf die Menschen fortführen, wie Multi-Storey Mosaic (1990) in West London, dem Tower Mosaic in Paddington, dem Living Mosaic in Bath, dem People Mosaic in Cambridge (alle 1991), wurden einzelne Mosaics auch in kulturellen Institutionen, etwa dem Academic Bookstore in Helsinki für das Book Mosaic (1990) oder im Fall vom Museum Mosaic (1994) in der Tate Gallery Liverpool umgesetzt. Bei letzterem rückte im Sinne der Institutionskritik das Konzept des Museums in den Fokus, allerdings ging es dabei weniger darum, dieses zu untersuchen, als es für soziale Interaktion und kulturelle Produktion zu nutzen. Auch hier diente das Format der Modelling Books als Infrastruktur zur Sichtbarmachung individueller Perspektiven auf einen Ort als Grundlage für einen Prozess der kollektiven Spekulation und Konsensbildung von unten. Die Modelling Books zeigen damit exemplarisch, wie künstlerische Forschung Infrastrukturen nicht nur kritisch reflektieren, sondern auch als gestaltbare soziale Prozesse nutzen kann – als Räume, in denen kollektives Wissen, neue Formen des Austauschs und alternative Zukünfte entstehen können.

Stephen Willats, The West London Social Resource Project, West London Re-Modelling Book, 1972–73
(in: Lucie Kolb (Hg.), Artwork as Institution. Stephen Willats, Zürich 2019, S. 13)


Bibliografie

Sabeth Buchmann, Kunst als Infrastruktur, Köln 2023
Buchmann analysiert künstlerische Praktiken, die Infrastrukturen selbst zum Gegenstand ästhetischer Reflexion und Gestaltung machen – etwa bei Martin Beck oder im Bauhaus Dessau.

Lauren Berlant, „The Commons: Infrastructures for Troubling Times“, in: Lauren Berlant, On the Inconvenience of Other People, Durham 2022
Berlant schildert Infrastrukturen als soziale und materielle Bedingungen, die in Krisenzeiten sichtbar werden, wenn sie versagen oder repariert werden müssen. Ihr Fokus liegt auf der Frage, wie alternative Formen des Gemeinsamen aus solchen Störungen hervorgehen können.

Lucie Kolb (Hg.), Artwork as Institution. Stephen Willats, Zürich 2019
Die Publikation beleuchtet Stephen Willats’ Arbeit mit Publikationen als infrastrukturelle Werkzeuge für dialogische gesellschaftliche Prozesse zwischen Künstler*innen, Publikum und Institutionen.

Marina Vishmidt, „Beneath the Atelier, the Desert: Critique, Institutional and Infrastructural“, in: Marion von Osten: Once We Were Artists (A BAK Critical Reader in Artists’ Practice), hg. von Tom Holert und Maria Hlavajova, Utrecht 2018, S. 218–237
Vishmidt kritisiert die institutionelle Kritik selbst als in institutionelle Strukturen eingebunden und reflektiert, wie sich künstlerische Arbeit trotz dieses Widerspruchs kritisch positionieren kann. Sie denkt Infrastruktur als ideelles wie materielles Fundament künstlerischer Praxis.