Partituren
Die queere Performance von Sophie Seita
Clara Herrmann

Sophie Seita, and and and also, 2024, Ausstellungsansicht, Akademie der Künste Berlin
(Foto: Stefanie Walk)
Die Partitur – als System aus Zeichen und Symbolen – ist aufgrund ihrer grafischen Qualitäten, ihrer inneren Logik, ihres Verhältnisses zur Zeitlichkeit und ihrer offenen Interpretationsmöglichkeiten ein Spiel-Platz nicht nur für die Musik, sondern seit den 1950er Jahren zunehmend auch für die Bildende Kunst, als Künstler*innen anfingen, mit visuellen Partituren in unterschiedlichsten Formen und Materialien zu experimentieren. Abstrakte und unkonventionelle grafische Partituren dienen nicht mehr der Überlieferung, stattdessen wird das Verhältnis zwischen Konzept, Aufzeichnung, Reproduzierbarkeit und Werk grundlegend neu bestimmt. Notationen können hier sowohl Anweisungen zum Spiel als auch autonome Werke sein. [1]
Maßgeblich geprägt haben diese Bewegung grenzüberschreitende Künstler*innen wie der amerikanische Avantgarde-Komponist John Cage. Sein mit Alison Knowles in den 1960er Jahren herausgegebenes Buch Notations (1969) besteht aus einer großen Sammlung grafischer Partituren und handschriftlicher Kommentare verschiedener zeitgenössischer Komponist*innen. Das Zufallsprinzip, das in diesem Buch wie in den meisten Werken Cages eine zentrale Rolle spielt, überträgt er später in den neunziger Jahren mit seiner Notation Museumcircle auch auf den Museumsraum. Es geht um Hierarchien und subtile Anarchien. Bis heute wird Museumcircle von Museen durch den Tausch von Exponaten, die per Zufall in einem Ausstellungsraum einem Platz zugeordnet werden, aufgeführt, wie aktuell von Museen in und um die europäische Kulturhauptstadt Chemnitz. [2] Die Partitur repräsentiert hier eine nicht wiederholbare Aktion mit nicht absehbarem Ausgang.
Die Auflösung von Hierarchien und Grenzen, das Prinzip des Zufalls – auch als demokratisierender Akt – setzt sich auch in abstrakten und unkonventionellen grafischen Partituren der bildenden Kunst fort. „Die Partitur als Apparat, der zwischen (Bild-)Sprache, Aufführung, Körper und Raum ‚trans-agiert‘“ [3], enthält Lücken und Spielräume, die sich aus der Abstraktion der Notation ergeben. Die Möglichkeit, dass alles Notierte immer auch anders verkörpert werden kann, macht die Partitur so für die Künstlerische Forschung interessant.
Ein Beispiel dafür ist die Künstlerin Sophie Seita, die ich eingeladen habe, ihre Praxis in diesem Newsletter in eigenen Worten vorzustellen. Sophie Seita erhielt in 2024 das Werner-Düttmann-Stipendium für transdisziplinäre Künste der JUNGEN AKADEMIE, das insbesondere auch künstlerisch-forschende Ansätze fördert. Seita nutzt die Offenheit und Unvollendetheit von Partituren, um queere Performance als politische Form zu erforschen. Die Künstlerin erkennt das radikale Potenzial der grafischen Partitur insbesondere darin, dass unterschiedliche Körper und Denkweisen durch den spielerischen und unvorhersehbaren Charakter einbezogen werden können, wodurch neue Zusammenkünfte und Beziehungszusammenhänge gestaltet und verhandelt werden können. Ihr Ansatz ist dezidiert kollaborativ; sie nutzt Methoden des Nicht-Wissens und schafft unhierarchische Lernumgebungen für Workshops, in welchen Fragen über körperliche Erfahrungen gestellt werden, anstatt eine „Technik“ zu lehren, die dann bis zur Perfektion geprobt werden kann. Sich ständig verändernde und nicht-lineare Zugänge zu Körpern, Wissen und Verlangen sind für die Künstlerin Merkmale einer queeren Abstraktion.

Sophie Seita, and and and also, 2024,
Klangfiguren I-VII, (Siebdruck auf merzerisierter Baumwolle, Stickerei, je 80 cm x 254 cm),
Performance-Kostüm (Siebdruck auf Baumwolle),
Ausstellungsansicht, Darlington Library (Foto: Rachel Deakin)
„als ob der Körper / eine Sanduhr / ein Regenmacher wäre“ – Die Partitur in meiner Arbeit and and and also
Sophie Seita
Klangfigur II
Oben auf dem Vorhang befinden sich Figuren auf einer horizontalen Ebene. Sie sehen zungenartig aus, sich aufrollend, fleischig, aber auch leicht, springend, glatt, wie die Anweisung andeutet: „mit der Delphinzunge“, einem Laut, der die Zunge aus ihrem Griff löst, weniger schwer oder beladen mit Gewohnheit sondern geschmeidiger und schlanker, mit einer inneren Vertikalität. Auf der nächsten Ebene darunter, wenn wir das so nennen können, und wenn wir von oben nach unten, von links nach rechts lesen, finden wir Formationen, die innere Schichten der Haut, Faszien, Bindegewebe sein könnten. Begleitet von dicken Decrescendos in neongrüner Stickerei, als Zuspitzung, Raffinesse, Klarheit.
Dann ein Akzent, wie ein Rauschen, dann eine kritzelnde, schnelle Bewegung, der Druck, der Drag der Graphitkante. Eine handschriftliche Aufforderung: „mit Neugier“. Der breite Graphitwürfel, flachgelegt, die Seite küssend, gequetscht, hingezogen, endet in einer Linie, die wie ein Mast aussieht, und die gezogene Form wie eine im Wind wehende Fahne, um sie herum nur bestickte Trümmer, aufgewirbelt. Das Gesäß des Fahnenmastes wendet sich zu einer großen Form, die wie eine umgekehrte Blume oder ein Blumenstrauß, ein kopfstehender Baum oder ein sich bauschender Stoff aussieht, dessen Kurven versehen mit der Aufschrift „mit leuchtenden Händen“, „mit Licht gefüllt“. Diamantartige Formen tropfen von den Rändern der Blütenspitzen. Eine Linie, die zu einer Handschrift führt, die sich wie vom Rand einer Seite krümmt, ebnet sich waagerecht und sagt: „Das Licht verbreitet sich, die Faszien blinken auf, im Glanz von Perlmutt.“
– Auszug aus der Hörbeschreibung zu and and and also (Sophie Seita, 2024)
verfügbar unter: www.sophieseita.com/#/and-and-and-also/ (englisch)
and and and also besteht aus einer Reihe von Textilstücken, die experimentelle grafische Partituren für imaginäre queere Stimmen und Körper darstellen, begleitet von zwei Klangstücken. [4] Die Arbeit begann als eine Reihe von Graphitzeichnungen als verkörperte Partituren, die dann in sieben siebgedruckte textile „Vorhänge“ umgewandelt und durch Stickereien weiter bearbeitet wurden. In der textilen Installation fangen die Partituren sogenannte Klangfiguren ein, was die Sinne des Hörens und des Sehens zusammenbringt. Bei diesen Klangfiguren handelt es sich um konzeptionelle Klänge oder allegorische Körper, die eine Queerness repräsentieren, die wir noch nicht kennen.
„Allegorie“ stammt aus dem Griechischen und kombiniert allos, „anders“, mit agoreuo, „in der Versammlung sprechen“. In der Aufführung finden die Partituren ihr „Anderssprechen“ in einer neuen Versammlung, in einer anderen (queeren) Sippschaft.
Materieller ausgedrückt, erscheinen die Partituren in and and and also als abstrakte, gestische Zeichen, manchmal durchsetzt mit meiner Handschrift und echten oder erfundenen musikalischen Anmerkungen. Ergänzt werden die Zeichen auf den Textilarbeiten durch Aufforderungen wie: „mit Neugier“ oder „Klang tropft / aus den Ohren / die Spiralen sind, / Schnecken, es tropft in das Gefäß / in den Kehlkopf, es rieselt / wie Saft, wie / Honig, wie Sand, / als ob der Körper / eine Sanduhr / ein Regenmacher wäre“.
Experimentelle Partituren sind ein entscheidendes Mittel im queeren Kontext meiner Arbeit, da sie sich an Abstraktion orientieren und somit Unbestimmtheit und Offenheit zulassen. Als queere Künstler*in, deren Arbeit nicht vorrangig an queeren Inhalten interessiert ist, setze ich mich eher mit der Frage auseinander, was eine queere Form sein könnte. Für mich geht es bei experimenteller Performance sowie bei Queerness letztendlich darum, noch nicht zu wissen, wie oder was etwas ist, wie es aussieht oder wie es sich anfühlt. Es ist „noch nicht da“, wie José Esteban Muñoz argumentierte. [5] Dabei folge ich in meinen Auseinandersetzungen Lex Morgan Lancasters Definition von „queerer Abstraktion“ (2022) als Untergrabung normativer Mediennutzung, Repräsentationserwartungen, und Lesbarkeit zugunsten von „chaotischen, affektiven, unvorhersehbaren Darstellungsweisen.“ [6]
Dieser Umgang mit queerer Abstraktion ist immer mit einer Neugier auf Verkörperung, emotionalen Ausdruck, Materialität und Haptik verbunden. Wie können wir anders und weitgreifender über Körper und Sprache nachdenken, ohne Klarheit oder Kohärenz von ihnen zu verlangen? Die queere Abstraktion orientiert sich an Opazität (nach Edouard Glissant [7]) und arrangiert die Objekte und Körper, die sich nah oder fern, außer Reichweite oder in anderen Winkeln von uns befinden, neu (Sara Ahmed). [8] In diesem Sinne eignet sich die grafische Partitur als praxisorientiertes Forschungsinstrument für queere Performance, da sie sich nicht auf eine starre unveränderbare Interpretation oder angebliche authentische Repräsentation beschränkt.
Die Gestik der Zeichnung verweist dabei immer auch auf den Körper, auf die Performance. „Die Sprache hat einen Leib und der Leib hat eine Sprache“, schreibt Walter Benjamin. [9] Wie erkennen wir diesen Körper in diesem Akt des Ab- oder An- oder Herauszeichnens, in der Sprache der Notation, in seiner Beziehung zur Zeit, und in der Imagination seiner Bewegungen oder Geräusche?
Die Partitur, wie ich sie in diesem Projekt verstehe, verortet sich zwischen dem Zeichnen und dem Schreiben und stellt eine Form der Markierung dar, durch die Sprache zum Material wird. Als solches lädt sie zum Spielen ein. Sie schürt meine brennende Faszination dafür, wie wir die Mehrdeutigkeit der Sprache – oder die Polyphonie der Sprache, – ihre Echos, ihre Taktilität, ihre Widersprüche, ihre Frustrationen, ihre Sinnlichkeit, ihre Unvorhersehbarkeit, ihre Durchlässigkeit oder Dichte erleben, teilen und abbilden … und und und auch …

Sophie Seita, and and and also, 2024, Detailansicht
(Foto: Rachel Deakin)
Endnoten
[1] Dies zeigten in den vergangenen zwei Jahrzehnten eindrücklich Ausstellungen wie Notation. Kalkül und Form in den Künsten – eine Ausstellung des ZKM und der Akademie der Künste, Berlin (2009) – oder Possibility of Action: The Life of the Score am Studienzentrum des Museu d’Art Contemporani de Barcelona (2008).
[2] vgl.: www.monopol-magazin.de/museum-circle-kulturhauptstadt-2025-greift-john-cage-konzept-auf/ [07.03.2025]
[3] Hendrik Folkerts, „Der Partitur nach. Notation, Verkörperung und liveness“, in: South as a State of Mind, Nr. 7 (documenta 14 #2), 2017, o.S., verfügbar unter: www.documenta14.de/de/south/464_der_partitur_nach_notation_verkoerperung_und_liveness [27.02.2025]
[4] Entstanden im Rahmen des Werner Düttmann-Stipendiums an der Akademie der Künste Berlin, 2024, parallel zu einer Ausstellung in der Darlington Library im Norden Großbritanniens.
[5] Muñoz bezieht sich auf Ernst Blochs Idee der Utopie, wenn er schreibt: „It is equally polemical to argue that we are not quite queer yet, that queerness, what we will really know as queerness, does not yet exist. I suggest that holding queerness in a sort of ontologically humble state, under a conceptual grid in which we do not claim to always already know queerness in the world, potentially staves off the ossifying effects of neoliberal ideology.“ José Esteban Muñoz, Cruising Utopia: The Then and There of Queer Futurity, New York 2009, S. 22.
[6] Lex Morgan Lancaster, Dragging Away. Queer Abstraction in Contemporary Art, Durham 2022, S. 3.
[7] Édouard Glissant, Poetics of Relation, übersetzt von Betsy Wing, Ann Arbor 1997, S. 189.
[8] Sara Ahmed, Queer Phenomenology: Orientations, Objects, Others, Durham 2006, S. 124, 43 und 29.
[9] Walter Benjamin, „Anja und Georg Mendelssohn: Der Mensch in der Handschrift“, in: Gesammelte Schriften, Band III: Kritiken und Rezensionen, Frankfurt am Main 1991, S. 138